Fachtag Sozialpsychiatrie Sozialkontor Hamburg

Sozialtherapie, Assistenz und die Gleichzeitigkeit der Dinge –
Ein Tag über die Tiefen professionellen Handelns

Es gibt Fachtage, die informieren, manche, die Impulse setzen – und dann gibt es Tage wie diesen, an denen Menschen aus einer professionellen Praxis heraus zusammenkommen und in einer Weise miteinander denken, sprechen und arbeiten, die den Kern ihrer Arbeit berührt.
Der Fachtag der Sozialpsychiatrie des Sozialkontors Hamburg, selbst organisiert von den eigenen Mitarbeitenden mit Unterstützung von ondela, war ein solcher Tag.
130 Menschen im Kulturpalast; ein Ort, der ungewöhnlich gut passte: kreativ, offen, akustisch klar, mit Raum für Nähe und Abstand zugleich.
Ein Tag, an dem von Anfang an spürbar war, dass es nicht um ein Programm ging, sondern um ein gemeinsames berufliches Selbstverständnis.

Was, wo, wie, wer – und warum überhaupt?

Dieser Tag hatte eine Aufgabe, die in vielen Organisationen schnell zu groß wirkt und deshalb selten eingelöst wird: die eigene Arbeit miteinander zu reflektieren, fachlich zu schärfen, in Frage zu stellen und weiterzuentwickeln – und das nicht abstrakt, sondern im direkten Bezug zu den realen Bedingungen, Widersprüchen und Herausforderungen des Alltags.

Das Sozialkontor Hamburg – als innovativer und breit aufgestellter Träger der Eingliederungshilfe und Sozialpsychiatrie – setzte mit diesem Tag ein sichtbares Zeichen:
Qualität entsteht dort, wo Menschen miteinander denken, nicht wo neue Regeln geschrieben werden.

Sozialtherapie als Bestandteil qualifizierter Assistenz – Prof. Röh öffnet den fachlichen Rahmen

 

Der erste große Impuls des Tages kam von Prof. Dr. Dieter Röh (HAW Hamburg), der – ganz wie es seiner wissenschaftlichen Klarheit entspricht – keine Ein-Wort-Antworten bot, sondern ein differenziertes Verständnis der sozialpsychiatrischen Fachlichkeit, das tief in der Klinischen Sozialarbeit verwurzelt ist.

Röh zeigte, dass Sozialtherapie kein Zusatzangebot, kein Sonderweg und keine psychotherapeutische Auslagerung ist, sondern ein zentraler Bestandteil qualifizierter Assistenz.
Er verortete sie dort, wo sie hingehört: in der feinen Schnittstelle zwischen biografischer Bedeutung, sozialen Milieus, Lebenswelt, inneren Konflikten, chronischer Erkrankung und den Beziehungsangeboten professioneller Fachkräfte.

Die Teilnehmenden hörten einen Beitrag, der nicht romantisierte und nicht beschönigte, sondern präzise beschrieb, was sozialpsychiatrische Arbeit in der Tiefe bedeutet:
eine professionelle Einflussnahme, die nicht nur Verhalten stabilisiert, sondern Handlungsfähigkeit stärkt – und dabei immer die Umwelt, die Beziehungen, die Dynamiken und die subjektiven Deutungen der Nutzer:innen mitdenkt.

Röh gab damit nicht nur einen Impuls – sondern einen professionellen Rahmen, in dem die anschließenden Arbeitsgruppen überhaupt erst ihre volle Tiefe entfalten konnten.

Sechs Arbeits-Workshops – sechs Perspektiven auf dieselbe Komplexität

 

Nach Prof. Röhs Beitrag gingen 130 Menschen in sechs moderierte Arbeitsgruppen.
Jede Gruppe arbeitete zu einem klar abgegrenzten Kernbereich der sozialpsychiatrischen Praxis – und doch zeigte sich schnell, dass alle Themen an denselben Knotenpunkten berührten:

  • Wie gelingt professionelle Beziehungsgestaltung im Einzelkontakt?

  • Was braucht Krisenintervention, um sicher und gleichzeitig menschlich zu sein?

  • Welche Rolle spielen Gruppen – offene wie strukturierte – für Stabilität und Teilhabe?

  • Wie gelingt sozialtherapeutische Methodik im Alltag, wenn Struktur, Zeit, Rollen und externe Anforderungen gleichzeitig wirken?

  • Wo beginnt Konfliktbearbeitung – und wo endet sie?

  • Wie lässt sich der Sozialraum als Ressource nutzen, ohne die eigene Professionalität zu verwässern?

Es waren keine Workshops, in denen „Feedback gesammelt“ wurde.
Es waren Räume, in denen professionelles Denken sichtbar wurde – fachlich, kritisch, ernsthaft, mit hoher Selbstverantwortung und der Bereitschaft, die eigene Praxis nicht nur zu beschreiben, sondern auch zu hinterfragen.

Der Praxisdialog – ein kollektives Nachdenken über das Kerngeschäft

 

Aus jeder Arbeitsgruppe wurde eine Person in einen zentralen Praxisdialog entsandt – eine Art verdichtetes Fachgespräch im Plenum, das nicht Podium hieß, aber genau das war: ein Raum, in dem gelebte Komplexität, fachliche Ansprüche und theoretische Rahmung miteinander ins Gespräch kamen.

Hier wurde sichtbar, was den Tag ausmachte:
Nicht eine Sammlung von Positionen, sondern ein Dialog zwischen Praxis, Wissenschaft und organisationaler Verantwortung.

Die sechs entsandten Fachkräfte sprachen über reale Situationen, über Dilemmata, über Ressourcen, über Spannungslagen, über gelingende Momente und über solche, die auch mit Erfahrung nicht leichter werden.
Prof. Röh spiegelte diese Perspektiven zurück, setzte Akzente, präzisierte, öffnete weitere Tiefen.
Geschäftsbereichsleiter Simon Steinwachs hörte zu, ordnete, verband – und formulierte dann den Satz, der für viele im Raum die Essenz der sozialpsychiatrischen Arbeit ausdrückte:

„Das ist die Gleichzeitigkeit der Dinge.“

Es war kein theoretischer Satz, sondern ein Satz, der aus der Praxis selbst geboren wurde –
aus der Überlagerung von Struktur, Beziehung, Krise, Stabilität, Selbstbild, Systemlogik und realen Lebenssituationen.

Ein Satz, der blieb.

Zwischen Kohlenhydraten und Beziehung – ein Moment kollektiver Wachheit

 

Nach der Mittagspause – dem wohl herausforderndsten Moment eines jeden Fachtags – übernahm die Moderation erneut die Bühne und öffnete mit einem kurzen, humorvollen und zugleich präzise gesetzten Aktivierungsimpuls genau den Raum, der jetzt gebraucht wurde.

Es war kein „Warm-up“ im klassischen Sinn, sondern eine kleine Intervention, die auf leichte Art sichtbar machte, was professionelle Beziehungsgestaltung im Kern verlangt: Präsenz.
Präsenz bei sich selbst, im Körper, im Denken – gerade dann, wenn Müdigkeit, Reizüberflutung und Informationsdichte eigentlich nach Rückzug verlangen.

Mit einem Augenzwinkern und der richtigen Balance aus Leichtigkeit und Klarheit stellte Melanie Lindemann Fragen, die unverkennbar aus dem Arbeitsalltag stammten und gleichzeitig mitten in die Themen des Tages führten. Die Teilnehmenden bewegten sich am Platz, lachten, erkannten sich wieder – und wurden wach, ohne sich beobachtet zu fühlen.

Dieser kurze Moment zeigte, wie fein abgestimmt Moderation sein kann:
Er erleichterte den Übergang aus der Pause, stellte wieder Verbindung her – zu sich selbst, zueinander und zum Thema – und bereitete den Boden für Bennet Schrader, der im Anschluss die professionelle Beziehungsgestaltung in ihrer ganzen Tiefe entfaltete.

Bennet Schrader – Beziehung als professionelle Variable, nicht als Gefühl

 

Bennet Schrader (Sozialkontor) setzte nach der Aktivierung an einem Punkt an, der für viele im Raum unerwartet entlastend war:
Er sprach nicht über „Beziehungsqualität“ im moralischen Sinn und auch nicht über psychotherapeutische Nähe, sondern über Beziehung als professionelle Variable – eine Größe, die bewusst gestaltet werden kann und deren Wirkung sich im Alltag zeigt, oft lange bevor ein Konzept greift.

Im Zentrum seines Beitrags stand die Frage, wie Menschen handeln, wenn Bedürfnisse, Emotionen, Stress, Selbstbilder, Krisen und Umfeldbedingungen zusammenwirken – und wie Fachkräfte innerhalb dieser Dynamiken wirksam bleiben können, ohne sich selbst zu verlieren.

Schrader beschrieb Beziehung nicht als persönliche Fähigkeit, sondern als Arbeitsinstrument:
präzise, nüchtern und dennoch voller Respekt vor der Komplexität menschlicher Interaktion.
Er zeigte, dass professionelle Beziehungsgestaltung dort beginnt, wo Mitarbeitende verstehen, wie Impulse entstehen, wie sie sich zeigen – und wie schnell sie im stressigen Alltag in Automatismen rutschen können.

Besonders klar wurde dies in seinem Hinweis auf jene Momente, in denen aufeinandertrifft, was im Fachtag zuvor mehrfach benannt wurde: Bedürfnis, Biografie, Erwartung, institutioneller Rahmen, Rollenklarheit und situative Belastung – jene „Gleichzeitigkeit der Dinge“, die im Praxisdialog zur Sprache gekommen war.

Schrader übersetzte diese Gleichzeitigkeit in ein handhabbares Konzept:
Nicht alles lässt sich ändern.
Aber die eigene Reaktion lässt sich verstehen, prüfen und bewusst steuern.
Und genau dort – im professionellen Umgang mit den eigenen Impulsen – entsteht jene Form von Beziehung, die nicht „nett“, sondern wirksam ist.

Er machte deutlich:

  • Beziehungsgestaltung ist keine Frage des Charakters.

  • Sie ist kein „Soft Skill“.

  • Sie ist kein moralischer Auftrag.

  • Sondern ein fachlich begründeter Beitrag zur Stabilisierung, Orientierung und Teilhabe von Menschen mit psychischen Erkrankungen – und damit ein Kernbestandteil sozialpsychiatrischer Professionalität.

In dieser Klarheit wurde für viele im Raum sichtbar, dass Beziehung nicht das „Nebenprodukt“ der Assistenz ist, sondern ihr zentrales Wirkfeld – und dass professionelle Steuerung kein Zusatz, sondern Grundlage sozialpsychiatrischer Wirksamkeit ist.

Reflexionsraum zu zweit – Profession trifft Person

 

Im Anschluss an Bennet Schraders Input arbeiteten die Teilnehmenden in einem bewusst gerahmten „Reflexionsraum zu zweit“. Ausgangspunkt war jeweils eine aktuelle Situation aus dem Kontakt mit Nutzer:innen, die emotional etwas ausgelöst hatte – Ärger, Hilflosigkeit, Verantwortung, Ohnmacht, Wunsch nach Lösung. Im Duo ging es dann nicht um Fallbesprechung, sondern um den eigenen professionellen Blick:
Was löst diese Situation bei mir aus? Welche Bilder und Zuschreibungen habe ich vom Gegenüber? Was ist mein spontaner Impuls – und was wäre eigentlich meine Aufgabe im Rahmen von ASP, Teilhabe und Fachlichkeit?

Die hörende Person fragte dabei gezielt nach: Was ist dein Bedürfnis – und was ist dein Auftrag? Welche Wirkung hätte dein spontaner Impuls auf Autonomie und Selbstwirksamkeit der Nutzer:innen? Aus dieser Verdichtung formulierte jedes Duo einen persönlichen Schlüsselsatz:

„Professionell handele ich, wenn ich … – und nicht, wenn ich …“

Diese Sätze wurden auf Moderationskarten notiert und beim Zurückkommen an eine große Metawand gepinnt – als sichtbares Panorama professioneller Selbstverständnisse, das nahtlos in das gemeinsame Resümee von Prof. Röh und Geschäftsbereichsleiter Simon Steinwachs überleitete.

Fazit – Ein Tag, der Klarheit geschaffen hat

 

Der Fachtag zeigte, wie kraftvoll es ist, wenn eine Organisation sich zutraut, ihre eigene Arbeit mit fachlicher Tiefe und echtem Realismus zu betrachten. Was sich durch den gesamten Tag zog, war kein neues Konzept, sondern ein gemeinsames Verständnis davon, was professionelle sozialpsychiatrische Arbeit heute verlangt: theoretische Fundierung, reflektierte Beziehungsgestaltung und die Fähigkeit, Komplexität auszuhalten, ohne die eigene Wirksamkeit zu verlieren.

Im Wechselspiel von Röhs fachlicher Rahmung, den sechs Arbeitsgruppen und dem Praxisdialog wurde sichtbar, wie eng Theorie und Alltag miteinander verwoben sind – und wie viel Professionalität bereits im täglichen Handeln steckt. Schraders Perspektive auf Beziehung als steuerbare Variable verschob den Blick noch einmal deutlich: weg von moralischen Erwartungen, hin zu einem klaren Verständnis von Wirkung, Entscheidung und Selbststeuerung.

Die Moderation gab diesem Prozess Struktur und Tiefe: Melanie Lindemann führte durch einen Tag, der weder vereinfacht noch beschönigt, sondern Räume geöffnet hat – für Ambiguität, fachliche Präzision und den Mut, die eigene Praxis ernsthaft anzuschauen.

Und genau damit arbeitet der Geschäftsbereich der Sozialpsychiatrie im Sozialkontor nun weiter: mit einem gemeinsamen Verständnis dessen, was Qualität ausmacht — und mit dem Anspruch, diese Professionalität im Alltag lebendig zu halten und weiterzuentwickeln.

Solche Tage braucht unsere Arbeit.